Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Maria Schmuckermair; Fein austarierte Schilderung der inneren Strukturen und Zustände am Hauptsitz der Europäischen Union. (DR) Den Beginn dieses sehr feinmaschig gewebten Romans markiert Victor Hugos Sinnspruch, dass Träumen das Glück sei, Warten das Leben. "Fortsetzung folgt", heißt es abschließend, womit wohl angedeutet wird, dass das ambitionierte Projekt EU ein "work in progress" sei. Aufgefächert auf etwa zehn Personen (es sind dies eine Handvoll in den EU-Institutionen agierende Figuren sowie der in einem mysteriösen Mordfall ermittelnde Kommissar Emile Brunfaut, der den polnischen Auftragskiller jagt) wird ein diffiziles Bild der Europapolitik in Brüssel und der Mechanismen in ihren Institutionen gezeichnet. Die extrem tüchtige, talentierte und sehr hübsche griechische Zypriotin Fenia Xenopoulou ist, weil bald 40, von inneren Zweifeln geplagt. Sie leitet die Kommunikation im Alibiressort "Kultur" und hat das "Big Jubilee Project" an sich gezogen, das das EU-Image verbessern soll. Ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter ist der Österreicher Dr. Martin Susman. Er ist bäuerlicher Herkunft und sein Bruder Florian, ein großer Schweinebauer und Standesvertreter, erwartet von ihm Lobbyismus in Brüssel, damit er Schlachtabfälle wie Schweinsohren an die Chinesen verkaufen darf. Der verwitwete DDr. Alois Erhart, emeritierter Volkswirtschaftsprofessor, soll in einem Think-Tank der Kommission ein Referat halten. Der in ein Altersheim übersiedelte, traumatisierte Holocaust-Überlebende David de Vriend soll für das "Big Jubilee Project" als Vorzeigefigur kontaktiert werden, denn eigentlich sollte die Union eine richtige Hauptstadt bekommen und die müsse Auschwitz sein. Nationalismus und Rassismus hätten zu Auschwitz geführt - und die Devise "Nie wieder Auschwitz" sei der Grund für das Einigungsprojekt gewesen. Skurrile Elemente (ein Schwein galoppiert durch Brüssel - oder ist es ein Phantom?), eine Kriminalhandlung und viele gut recherchierte Interna aus Brüssel fügen sich zusammen zu einem spannenden und aufschlussreichen kritischen Roman. Weite Verbreitung erwünscht! ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Clemens Ruthner; Schwein gehabt Zum EU-Roman von Robert Menasse Wer hat den Senf erfunden? Das ist kein guter Anfang für einen Roman. Andererseits: Es kann keinen guten Anfang geben, weil es, ob gut oder weniger gut, gar keinen Anfang gibt. Denn jeder denkbare erste Satz ist bereits ein Ende auch wenn es danach weitergeht.« Und das passiert in der Tat: Ein entlaufenes Schwein bewegt sich frei durch Brüssel, wie frisch aus einem Gemälde von Pieter Brueghel. Einen ganzen Roman hindurch läuft es Leute über den Haufen, lässt sie an ihrem Verstand zweifeln, narrt Polizisten und beliefert Medien so lange mit Nachrichten-Nachschub, bis es in den Geruch gerät, selbst nur fake news zu sein. Kurzum: wer ein Faible für starke Romananfänge hat, ist bei Robert Menasse immer gut aufgehoben (erinnert sei nur kurz an die Chili-Schote weiland im Po seines Don Juan). Und so ist es auch diesmal obwohl das blindwütige Biest mit dem Ringelschwanz eigentlich ein blindes (?) Motiv ist, das ebenso wie ein parallel geschehener Mord die Handlung in Bewegung setzt, wie es freilaufende Tiere seit Wolfram von Eschenbachs Titurel nur noch selten tun. Was ist also wirklich geschehen? Während eines langen Aufenthalts als writer in residence in Brüssel entwickelte sich der EU-kritische Saulus alias Robert Menasse zum Paulus des kontinentalen Einigungsprojekts, wie schon in seinem viel gelesenen Essay Der europäische Landbote (2012) nachzulesen war. Jetzt ist auch besagter, lang erwarteter Roman dazu erschienen, Die Hauptstadt, der diese Erfahrung fiktiv verarbeitet. Es ist der Versuch, eine europäische Epopöe zu schreiben, die in der EU-Metropole, ihren Scheinwelten und Tintenburgen spielt, um dieses Byzanz der Glaspaläste rund um den Schuman Roundabout irgendwie transparent zu machen. Dafür gibt es mindestens einen Vorläufer, nämlich Andrew Roberts Thriller The Aachen Memorandum von 1995 (wo es schon no na! um eine manipulierte EU-Volksabstimmung in Großbritannien geht), aber es ist nicht ersichtlich, ob das Menasse sonderlich bewusst war. Der Autor versucht, das europäische Ränkespiel zu schildern, indem er sein Figuren-Personal nachgerade mit Quotenreglung aufteilt. Da gibt es innerhalb der EU-Kommission eine strebsame zypriotische Griechin, einen kreativ verlorenen Österreicher, einen coolen Tschechen mit Wiener Kindheit, einen manipulativen Ungarn, einen unsympathischen Briten (»Die einzige Monokultur, die er akzeptierte, war der Golfplatz«) und einen wichtigen Deutschen mit Liebhaber-Qualitäten; daneben tummeln sich noch ein österreichischer Ökonomie-Professor (Typ: luzider alter Grantler) sowie jeweils ein belgischer Kriminalkommissar und Holocaust-Überlebender, nebst anderen. Es gibt also doch ein österreichisches und wie sich herausstellt durchaus kakanisches Übergewicht. Von magyarischer Figuren-Seite bekommt in diesem Roman, der sich für die »nachnationale Demokratie« stark macht, übrigens auch der hassgeliebte Kleinstaat der Heimat sein Fett ab, was in die Frage mündet: »Ob Österreich eine Nation war oder ein Betriebsunfall der Geschichte, in seinem Größenwahn zu Recht zurückgestutzt zu einem Kleinstaat von Mischlingen ()«? Ein klandestiner Orbán-Fan, der hier als rechter Tor die Wahrheit sagt? Es herrscht also wieder jener der menasseschen Lesegemeinde bereits bekannte und beliebte satirische Ton vor, der die großen Pläne und kleinen Schwächen der letztlich machtlosen Entscheidungsfinder/innen in der Kommission gegeneinander aufrechnet. Das ist mitunter witzig, ja charmant, driftet aber manchmal auch ins Klischee ab, so etwa, wenn EU-Mitarbeiter/innen immer ein gestörtes oder nichtexistentes Privatleben zu haben scheinen. Neu ist indes der Hang zum melancholischen Nach-Satz als basso continuo dieses Werks, wie in den Sentenzen, die die Kapitel eröffnen oder häufig Episoden abschließen. Sie dokumentieren offenkundig die Reifung des Autors zum Elder Statesman eines beginnenden Alterswerks. Wie heißt es so schön: »Erinnerungen sind nicht zuverlässiger als alles andere, was wir uns ausmalen.« Nichtsdestotrotz zeugt Menasses Roman von einem guten Gedächtnis und Ortswissen, aber leider auch einem weniger kenntnisreichen Lektor sind und bleiben doch einige (reale) Namen falsch geschrieben, wie z.B. »Frije Universiteit Brussel«. Zur Verklammerung mit der real existierenden Lebenswelt kommen kokett auch nicht-fiktive Figuren in dieser Papier-Hauptstadt zum Zug, wie etwa der flämische Vorzeige-Autor Geert van Istendael (dem Claudio Magris von Belgien). Aber spätestens, wenn der intrigante Karriere-Italiener in der EU-Kommission (Graf) Strozzi heißt und die Griechin Xeno bzw. ihr österreichischer Mitarbeiter Martin ein Jubilee Project zum 50-jährigen Bestehen der EU-Kommission aushecken, wird klar, dass dieser Plot eine Parallelaktion zur »Parallelaktion« in Robert Musils Jahrhundertroman Der Mann ohne Eigenschaften sein kann (der auch im Roman als ungelesene Lieblingslektüre von Spitzenfunktionären vorkommt). Österreich ist nun im Gegensatz zur bundesdeutschen Literatur arm an überzeugenden Gesellschaftsromanen und Menasse einer der wenigen heimischen Autoren, den es immer wieder in dieses Rollenfach zog. Diesmal ist die technische Herausforderung aber eine besonders große, wenn es darum geht, in einem Roman nicht nur individuelle Leben in ihrer österreichischen Verbandelung, sondern supranationale Institutionen und die internen Abläufe ihrer Bürokratie darzustellen: vor allem, wenn es hier eine mächtige Konkurrenz nicht in der Literatur, sondern mit zeitgenössischen Fernsehserien wie House of Cards oder Børgen gibt, die damit offensichtlich weniger Probleme haben. Gerade in diesem Kernbereich seines Anliegens wird der Roman aber etwas papieren und eintönig. Unglaubwürdig ist er indes mit seinem haarsträubenden Thriller-Plot, wo die Nato und der Vatikan sich scheinbar zusammentun und einen polnischen Killer ausschicken: Zu sehr erinnert das als gewollte Parodie? an die aberwitzigen Verschwörungstheorien von EU-Gegnern, die man auf gut Englisch nutcases nennt. Wozu also dieser Handlungsstrang? Realistisch, aber etwas fade wird der Text, wenn es um das Lobbying für Schweinefleisch geht. Auch die Idee, Auschwitz und die Gründung der EU im Kontext zu sehen, ist ideengeschichtlich richtig, wird aber doch etwas überstrapaziert. Und schließlich gehen die hochangespannten Plot-Knäuel rund um Schwein und Politmord nicht befriedigend auf und das sind die Achillesfersen eines Nicht-Thrillers, der anderwärtig durchaus Meriten hat, so dass ich ihm stellenweise eine bessere Handlung gewünscht hätte. ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Clemens Ruthner; Schwein gehabt Zum EU-Roman von Robert Menasse Wer hat den Senf erfunden? Das ist kein guter Anfang für einen Roman. Andererseits: Es kann keinen guten Anfang geben, weil es, ob gut oder weniger gut, gar keinen Anfang gibt. Denn jeder denkbare erste Satz ist bereits ein Ende auch wenn es danach weitergeht.« Und das passiert in der Tat: Ein entlaufenes Schwein bewegt sich frei durch Brüssel, wie frisch aus einem Gemälde von Pieter Brueghel. Einen ganzen Roman hindurch läuft es Leute über den Haufen, lässt sie an ihrem Verstand zweifeln, narrt Polizisten und beliefert Medien so lange mit Nachrichten-Nachschub, bis es in den Geruch gerät, selbst nur fake news zu sein. Kurzum: wer ein Faible für starke Romananfänge hat, ist bei Robert Menasse immer gut aufgehoben (erinnert sei nur kurz an die Chili-Schote weiland im Po seines Don Juan). Und so ist es auch diesmal obwohl das blindwütige Biest mit dem Ringelschwanz eigentlich ein blindes (?) Motiv ist, das ebenso wie ein parallel geschehener Mord die Handlung in Bewegung setzt, wie es freilaufende Tiere seit Wolfram von Eschenbachs Titurel nur noch selten tun. Was ist also wirklich geschehen? Während eines langen Aufenthalts als writer in residence in Brüssel entwickelte sich der EU-kritische Saulus alias Robert Menasse zum Paulus des kontinentalen Einigungsprojekts, wie schon in seinem viel gelesenen Essay Der europäische Landbote (2012) nachzulesen war. Jetzt ist auch besagter, lang erwarteter Roman dazu erschienen, Die Hauptstadt, der diese Erfahrung fiktiv verarbeitet. Es ist der Versuch, eine europäische Epopöe zu schreiben, die in der EU-Metropole, ihren Scheinwelten und Tintenburgen spielt, um dieses Byzanz der Glaspaläste rund um den Schuman Roundabout irgendwie transparent zu machen. Dafür gibt es mindestens einen Vorläufer, nämlich Andrew Roberts Thriller The Aachen Memorandum von 1995 (wo es schon no na! um eine manipulierte EU-Volksabstimmung in Großbritannien geht), aber es ist nicht ersichtlich, ob das Menasse sonderlich bewusst war. Der Autor versucht, das europäische Ränkespiel zu schildern, indem er sein Figuren-Personal nachgerade mit Quotenreglung aufteilt. Da gibt es innerhalb der EU-Kommission eine strebsame zypriotische Griechin, einen kreativ verlorenen Österreicher, einen coolen Tschechen mit Wiener Kindheit, einen manipulativen Ungarn, einen unsympathischen Briten (»Die einzige Monokultur, die er akzeptierte, war der Golfplatz«) und einen wichtigen Deutschen mit Liebhaber-Qualitäten; daneben tummeln sich noch ein österreichischer Ökonomie-Professor (Typ: luzider alter Grantler) sowie jeweils ein belgischer Kriminalkommissar und Holocaust-Überlebender, nebst anderen. Es gibt also doch ein österreichisches und wie sich herausstellt durchaus kakanisches Übergewicht. Von magyarischer Figuren-Seite bekommt in diesem Roman, der sich für die »nachnationale Demokratie« stark macht, übrigens auch der hassgeliebte Kleinstaat der Heimat sein Fett ab, was in die Frage mündet: »Ob Österreich eine Nation war oder ein Betriebsunfall der Geschichte, in seinem Größenwahn zu Recht zurückgestutzt zu einem Kleinstaat von Mischlingen ()«? Ein klandestiner Orbán-Fan, der hier als rechter Tor die Wahrheit sagt? Es herrscht also wieder jener der menasseschen Lesegemeinde bereits bekannte und beliebte satirische Ton vor, der die großen Pläne und kleinen Schwächen der letztlich machtlosen Entscheidungsfinder/innen in der Kommission gegeneinander aufrechnet. Das ist mitunter witzig, ja charmant, driftet aber manchmal auch ins Klischee ab, so etwa, wenn EU-Mitarbeiter/innen immer ein gestörtes oder nichtexistentes Privatleben zu haben scheinen. Neu ist indes der Hang zum melancholischen Nach-Satz als basso continuo dieses Werks, wie in den Sentenzen, die die Kapitel eröffnen oder häufig Episoden abschließen. Sie dokumentieren offenkundig die Reifung des Autors zum Elder Statesman eines beginnenden Alterswerks. Wie heißt es so schön: »Erinnerungen sind nicht zuverlässiger als alles andere, was wir uns ausmalen.« Nichtsdestotrotz zeugt Menasses Roman von einem guten Gedächtnis und Ortswissen, aber leider auch einem weniger kenntnisreichen Lektor sind und bleiben doch einige (reale) Namen falsch geschrieben, wie z.B. »Frije Universiteit Brussel«. Zur Verklammerung mit der real existierenden Lebenswelt kommen kokett auch nicht-fiktive Figuren in dieser Papier-Hauptstadt zum Zug, wie etwa der flämische Vorzeige-Autor Geert van Istendael (dem Claudio Magris von Belgien). Aber spätestens, wenn der intrigante Karriere-Italiener in der EU-Kommission (Graf) Strozzi heißt und die Griechin Xeno bzw. ihr österreichischer Mitarbeiter Martin ein Jubilee Project zum 50-jährigen Bestehen der EU-Kommission aushecken, wird klar, dass dieser Plot eine Parallelaktion zur »Parallelaktion« in Robert Musils Jahrhundertroman Der Mann ohne Eigenschaften sein kann (der auch im Roman als ungelesene Lieblingslektüre von Spitzenfunktionären vorkommt). Österreich ist nun im Gegensatz zur bundesdeutschen Literatur arm an überzeugenden Gesellschaftsromanen und Menasse einer der wenigen heimischen Autoren, den es immer wieder in dieses Rollenfach zog. Diesmal ist die technische Herausforderung aber eine besonders große, wenn es darum geht, in einem Roman nicht nur individuelle Leben in ihrer österreichischen Verbandelung, sondern supranationale Institutionen und die internen Abläufe ihrer Bürokratie darzustellen: vor allem, wenn es hier eine mächtige Konkurrenz nicht in der Literatur, sondern mit zeitgenössischen Fernsehserien wie House of Cards oder Børgen gibt, die damit offensichtlich weniger Probleme haben. Gerade in diesem Kernbereich seines Anliegens wird der Roman aber etwas papieren und eintönig. Unglaubwürdig ist er indes mit seinem haarsträubenden Thriller-Plot, wo die Nato und der Vatikan sich scheinbar zusammentun und einen polnischen Killer ausschicken: Zu sehr erinnert das als gewollte Parodie? an die aberwitzigen Verschwörungstheorien von EU-Gegnern, die man auf gut Englisch nutcases nennt. Wozu also dieser Handlungsstrang? Realistisch, aber etwas fade wird der Text, wenn es um das Lobbying für Schweinefleisch geht. Auch die Idee, Auschwitz und die Gründung der EU im Kontext zu sehen, ist ideengeschichtlich richtig, wird aber doch etwas überstrapaziert. Und schließlich gehen die hochangespannten Plot-Knäuel rund um Schwein und Politmord nicht befriedigend auf und das sind die Achillesfersen eines Nicht-Thrillers, der anderwärtig durchaus Meriten hat, so dass ich ihm stellenweise eine bessere Handlung gewünscht hätte. ---- Quelle: Pool Feuilleton; Große Gebilde lassen sich nur mit einem Roman großer Ironie darstellen. So handelt der berühmte Musil-Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" beispielsweise von einer Parallelaktion, in der es darum geht, die Jubiläumsfeiern des deutschen Reiches mit einer noch größeren der k. und k. Monarchie zu übertreffen. Robert Menasse nimmt als Musil-Kenner diesen roten Faden von Großveranstaltungen auf, wenn es darum geht, einem ganzen Kontinent einen Sinn, eine Zukunft, eine Feier und vor allem eine Hauptstadt zu verpassen. Die Hauptstadt spielt in Brüssel, wo aus allen EU-Ländern Beamte, Lobbyisten und Adabeis zusammenströmen, um vor allem gut zu essen und diskrete Seitensprünge abzuarbeiten. Leitmotiv für eine Boulevard-eske Perspektive ist ein Schwein, das an diversen Überwachungskameras vorbei ständig durch Brüssel läuft und die sprichwörtliche Sau darstellt, die durch das Dorf getrieben wird. Im Hintergrund freilich wird über industrielles Massakrieren von Schweinen verhandelt, Vertreter von Kleinbauern erinnern sich noch an die kleinen Höfe in Randlage der EU und stehen dem Massenwahn in Brüssel fassungslos gegenüber. Eine Kulturreferentin aus Zypern wird beauftragt, eine Kampagne zu entwickeln, um den Ruf der EU zu verbessern. Unterstützt wird dieses Unterfangen von einem gewissen Martin Susmann, der eine Mischung aus Geschichtsaufarbeitung, Philosophie und Zukunftsgedanken entwickeln soll. In unzähligen Hearings und Arbeitsgesprächen versucht er so etwas wie eine imaginäre Parallelaktion zu entwickeln. Provokanter Höhepunkt ist die Überlegung, Auschwitz als (Gedächtnis-)Hauptstadt Europas auszurufen, denn letztlich lässt sich Europa nicht ohne den Holocaust denken. Das lebende Denkmal der Vernichtung stellt David de Friend dar, er hat die Nazi-Herrschaft überlebt und ist in einem Altersheim gestrandet, mitten in der Stadt, mit Panorama-Ausblick auf den Friedhof. Seine Aufgabe ist es nun, Listen von Überlebenden zu erstellen, aber die Streichungen werden häufiger, bald wird niemand mehr da sein. Ausgerechnet er, der alles überlebt hat, stirbt bei einem Anschlag. Eine Menge zeitgenössischer Stoff ist in Mittagsgespräche oder Presseaussendungen verpackt, sogenannte Geistergeher dringen als Migranten über Autobahnen nach Deutschland ein, je kleiner die Länder in Randlage sind, desto nationalistischer gebärden sie sich, im Hotel Atlas soll ein Mord vertuscht werden. Fakten, Analysen und Fakes schwirren durch die Hauptstadt wie eh und je. Am Schluss fällt jemandem auf, dass das Schwein schon eine Zeitlang nicht mehr gesichtet worden ist. Der Roman ist nach mit einem Prolog, elf Kapiteln und einem Epilog ausgestattet. Beeindruckend sind dabei die Mottos, mit denen die Kapitel unterlegt sind und die etwas Archaisches wie Gesetzestafeln haben. "Letztlich ist der Tod auch nur der Beginn von Folgeerscheinungen." (77) "Erinnerungen sind nicht unzuverlässiger als alles andere, was wir uns ausmalen." (141) "Wenn etwas zerfällt, muss es Zusammenhänge gegeben haben." (401) Helmuth Schönauer
Rezension
Personen: Menasse Robert
Menasse Robert:
Die Hauptstadt : Roman / Robert Menasse. - Berlin : Suhrkamp, 2017. - 458 S.
ISBN 978-3-518-42758-3
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