Wenn die allgemeine Literatur schon Maßstäbe für etwas Groteskes, Verrücktes und Schizophrenes zu setzen imstande ist, so lautet die Steigerung all dessen wahrscheinlich nordkoreanische Literatur. Adam Johnson hat für Recherchen zu seinem dystopischen Mega-Roman "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do" einige Zeit in Nordkorea zugebracht, weshalb für uns Leser jeder Satz, so verrückt er auch klingen mag, authentisch wirkt. Dabei geht der Roman weit über die Beschreibung eines skurrilen Staatsgefüges hinaus, er erzählt nämlich schlicht und unterirdisch von den Auswüchsen jeglicher Verwaltung, und hat deshalb oft Engführungen zu Franz Kafka und dem österreichischen Hofratsroman in sich. Im geraubten Leben geht es im ersten Teil um das Waisenkind Jun Do, der in Wirklichkeit kein Waise ist, sondern aus Überlebensgründen vom Vater in eine Waisen-Anlage gesteckt wird. Darin wird er zu einem perfekten Tunnelkämpfer ausgebildet, der sich in der Finsternis wohl fühlt und immer wieder zu unterirdischen Einsätzen nach Südkorea geschickt wird. Später "pflückt" er als Geheimagent auf einem Fischerboot japanische Bürger und Künstlerinnen vom japanischen Strand, den Auftrag dazu erteilen die Bonzen in Pjöngjang, die beispielsweise ihre Entführungsopfer im Katalog bestellen. Im zweiten Teil wechselt der Waisenknabe die Identität und er wird zum gefürchteten Direktor Ga, der ein Bergwerksgefängnis in Vollendung führt. In dieser Funktion übernimmt er auch die Frau des echten Direktors, diese ist Sängerin und die Geliebte des Geliebten Führers. Mit einem Agenten-Kunststreich gelingt es dem falschen Ga, die Opernsängerin vor den Augen des geliebten Führers außer Landes nach Amerika zum Todfeind zu schmuggeln. Als Leser sind wir durch die raffinierte Perspektive immer hautnah am Wahnsinn dran und erleben den monströsen Staat, indem wir durch seine geheimdienstlichen Adern pulsieren. Der Waisen-Boy führt in die Technik der Askese und des Survivals ein, ein Verhör-Spezialist berichtet in der Ich-Position im zweiten Teil von den Methoden des Verhörs und den letzten Weisheiten des Geheimdienstwesens. "Ich hörte Stöhnen und merkte, dass es von mir kam." (633) heißt es bei einer Folterung und an anderer Stelle droht der Spezialist: "Sie werden gleich alles verlieren, alles außer Ihrem Herzschlag." (629) Und das Überlebensmotto der Figuren ist auch sehr staatstragend: "Was machst du hier? - Ich setze mich voll ein." (429) Der erzählte Wahnsinn ist geradezu unbeschreiblich und mannigfaltig. Erziehung zur Nicht-Persönlichkeit, Führer-Kult, stilisierte Liebe zu einer Opernsängerin, große Filmzitate, Wettstreit mit der texanischen Brachial-Kultur, die der nordkoreanischen ziemlich gleicht, sind nur einige der Leckerbissen aus einer schier unendlichen Bar von irrealen Happen. Und das Verrückte ist: Nichts ist übertrieben, in jeder nordkoreanischen Übertreibung steckt als Fundament ein österreichischer, amerikanischer oder kaiserlicher Blindgänger als zündendes Element. - Mit puren Lesehänden nicht zu fassen! Helmuth Schönauer
Personen: Johnson, Adam Burger, Anke Caroline
DR.G Joh
Johnson, Adam:
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do : Roman / Adam Johnson. Aus dem amerikan. Engl. von Anke Caroline Burger. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2013. - 685 S.
ISBN 978-3-518-46425-0
Gesellschaftsroman/ Liebesroman - Buch