Vom Nicht-Sprechen auf dem Land Reinhard Kaiser-Mühleckers "Der lange Gang über die Stationen" Was war am Anfang? "Ganz am Anfang standen einzelne lange, mit Eis überzogene Grashalme aus einer harten Schneedecke hervor, und kein Wind konnte sie bewegen." Was wird am Ende sein? Es wird wieder Winter sein, Schnee wird liegen, die Erde gefroren sein, ein Wald, Bäume mit dürren Zweigen, kein Licht mehr und ein Mann auf dem Weg in den Tod. Über vier Jahreszeiten und geschätzte ebenso viele Jahre erstreckt sich Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman, der in Oberösterreich angesiedelt ist. Die nächstgrößere Stadt ist Linz. Doch Linz ist dem Protagonisten schon zu groß, zu naturfern. Der 1982 in Kirchdorf an der Krems geborene Kaiser-Mühlecker kennt diesen Landstrich gut, wuchs er doch auf dem Bauernhof seiner Eltern im oberösterreichischen Eberstalzell auf. Später ging er nach Wien, wo er heute noch lebt, und belegte dort neben Landwirtschaft auch die Fächer Geschichte und Internationale Entwicklung. Was er nun mit seiner ersten buchlangen Veröffentlichung - davor publizierte er in Literaturzeitschriften - vorlegt, zeigt eine ganz erstaunliche Reife. Und ein ausgeprägtes Gefühl für Sprache, für Unausgesprochenes und fürs Verstummen. Die Hauptfigur ist ein Mann, Bauer und Hoferbe, der endlich geheiratet hat. "Meine Frau war zu mir gezogen. Sie kam nicht aus der Gegend, sondern von weiter her, und diese Umgebung hier war ihr noch recht neu und unbekannt. Sie war zu mir gezogen, und da, ganz am Anfang, war alles noch so einfach." Doch schon hier, auf der zweiten Seite des Romans, der diese Genrebezeichnung nicht ganz verdient, vielmehr handelt es sich um eine lange Geschichte, täuscht sich der Ich-Erzähler. Denn einfach ist hier kaum etwas, auch wenn das Leben überschaubar ist, den Jahreszeiten und den bäuerlichen Regeln, Tätigkeiten und anfallenden Notwendigkeiten folgt. Der nicht allzu große Hof ist in keiner guten ökonomischen Verfassung. Der Ich-Erzähler bewirtschaftet ihn nahezu allein, die Mutter ist gebrechlich, der Vater eine Beckettsche Figur, ein anwesender, aber gänzlich stummer Abwesender, der schwer krank im einstigen Gästezimmer auf dem Krankenbett, besser gesagt: auf dem Sterbebett liegt. Aus der Zweisamkeit des Ehepaares entwickelt sich Schritt für Schritt, Monat für Monat eine zunehmende Fremdheit, ein gegenseitiges Sichmissverstehen und ein Zurückstoßen und Zurückgestoßenfühlen. Zum Unverständnis gesellt sich eine defizitäre Kommunikation. Doch es ist nicht die Frau, obschon es der immer unzuverlässiger und undurchdringlicher werdende Ich-Erzähler an ihr und ihrer Sehnsucht nach allem Städtischen festmacht - eine etwas ungeschickte, weil zu deutlich ausgemalte Szene, der die sich zum Bruch summierenden Fissuren der Beziehung nachzeichnet, spielt beispielsweise auf einem Dach in einem Wiener Innenstadtbezirk -, der dies verschuldet. Sondern es ist der Mann, ein opakes Wesen, der dies tut, der dies wahrnimmt, ohne Änderungen einzuleiten. Ohne sich zu ändern. Oder darüber reden zu können. Seine anfangs nüchtern anmutenden Observationen verhüllen nur mühsam einen Kern, an den er nicht zu rühren vermag: dass er nämlich ein falsches Leben führt. Bereits sehr ungewöhnlich war es, dass er einst sechs Monate lang ausbrach und durch Österreich wanderte, sich dort etwas verdiente und hier gegen Logis arbeitete, um anderes zu sehen als den engen Horizont des Dorfes, abgezirkelt zwischen werktäglicher harter Arbeit und sonntäglichem Kirchgang. Einen anderen Ausweg für Verzweifelte als den Selbstmord gibt es hier nicht, wie etwa für den verwitweten und vereinsamten Nachbarn, der dem Erzähler als Freund galt; ihm erweist er, nach der verweigerten Bestattung durch den Pfarrer auf dem Kirchhof, die letzte Ehre und bestattet ihn selber. Reinhard Kaiser-Mühlecker, ein hochbegabter Autor, der einen anderen, ebenfalls überaus acht- wie bedachtsam formulierenden Autor als "seinen Mentor" bezeichnet, nämlich den Vorarlberger Wolfgang Hermann, erzählt dies ohne jedes denunziatorische Element und verweigert sich den tradierten und leidlich durchdeklinierten Klischees jüngerer österreichischer Literatur, dem Furor und Lamento und Klageführen wider die Provinz, insonderheit wider den geistig retadierten, ja als imbezil gezeichneten provinziellen Staat namens Österreich, als psychopathologische Freiluftanstalt gezeichnet. Kaiser-Mühlecker erzählt in einem leicht sperrigen Duktus, der das Eckige, das Harte und Widerständige, das latent Ersehnte und das Zerbrechende eindringlich und präzise wiedergibt. Zweifellos ein erstaunliches Debüt. An das sich die Frage anschließt: Wie hoch liegt die Barriere für den Zweitling, recht eigentlich das schwerste Buch einer Autorenkarriere? Antwort: sehr hoch. Was wird kommen? Wohl ganz anderes, wie Reinhard Kaiser-Mühlecker schon avisiert hat. Zu wünschen ist ihm, dass der Hamburger Hoffmann und Campe Verlag länger an ihm festhält und ihn besser betreut als einst die deutschen Verlagshäuser, bei denen Wolfgang Hermann seine ersten Bücher herausbrachte, bevor sich beim Bregenzer eine werkverstreuende Odyssee durch diverse Verlage inklusive schwankender Lektoratsarbeit anschloss. Was bei Reinhard Kaiser-Mühlecker am Anfang war, das zumindest wissen wir. "Ganz am Anfang standen einzelne lange, mit Eis überzogene Grashalme aus einer harten Schneedecke hervor, und kein Wind konnte sie bewegen." *Literatur und Kritik* Alexander Kluy
Personen: Kaiser-Mühlecker, Reinhard Mühlecker, Reinhard Kaiser-
DR.G Kai
Kaiser-Mühlecker, Reinhard:
Der lange Gang über die Stationen / Reinhard Kaiser-Mühlecker. - Hamburg : Hoffmann und Campe, 2008. - 157 S.
ISBN 978-3-455-40104-2
Gesellschaftsroman/ Liebesroman - Buch