Es gibt Abschnitte im Leben, die werden automatisch zu einem Roman. Dem Chirurgen Timoteo ("Sind Sie Arzt? - Nein Chirurg!") passiert es unvermittelt, dass er zum Star seines eigenen Lebensromans wird. Seine fünfzehnjährige Tochter Angela wird nämlich nach einem Verkehrsunfall mit schwersten Kopfverletzungen an die Klinik gebracht, und nun steht der Held tausender Operationen fassungslos und geknickt vor dem eigenen Schicksal und kann so gut wie nichts tun. Während drinnen die Kollegen operieren, geht draußen vor der Tür der Vater sein Leben durch. Wie in Ausnahmefällen üblich geschieht dies sprunghaft, ungefiltert und eruptiv. "Geh nicht fort!" entwickelt sich zu einer Beschwörungsformel, die immer wieder in entscheidenden Phasen dem Chirurgen über die Lippen gekommen sind. Angela im Operationssaal ist eigentlich das Kind zweiter Wahl, wenn man das im Sinn einer Lebensplanung so sagen kann. Es gibt nämlich zwei Frauen, Italia, die versteckte, geheimnisvolle, mit einem aus der Sicht des Mannes animalisch-nuttigen Lebensstil, und Elsa, die offizielle Frau und Mutter von Angela. Vor dem Operationssaal setzt sich die Lebensgeschichte immer wieder neu zusammen, Italia ist letztlich eine Abtreibung zum Verhängnis geworden, sie stirbt erbärmlich an einer Sepsis, obwohl sie Timoteo wie in einem Wussow-Film noch zu retten versucht. Und Elsa ist damals überraschend schwanger geworden, das Kind wurde zu einem für die Umwelt artig inszenierten Erlebnis, und offensichtlich erst jetzt, schwer verletzt, langsam entwickelt es den wahren Wert. "Geh nicht fort", heißt noch immer die Beschwörung. Zwischendrin muss Timoteo tatsächlich noch in den Operationssaal und seine Tochter reanimieren, aber dann, nach über dreihundert Seiten ist es überstanden und Angela kommt durch. Margaret Mazzantini spielt die Gefühlsorgel eines Mannes von innen her, die Geräusche nach außen sind daher viel heftiger, als der sogenannte Seelenlärm. Gefühle, wenn sie angespielt werden, kommen immer dem Kitsch sehr nahe. Ja, dieser Chirurg denkt in der Stunde der Reflexion oft sehr kitschig. Aber ist Kitsch nicht das Echte, das einen Mann ausmacht, wenn er mit Frauen in den Infight der Emotionen tritt? Als Leser ist man dazu verdammt, die Innensicht eines Mannes einzunehmen, aber man kann dennoch aufmerksam den weiblichen Figuren folgen, die es letztlich auch mit dem Leser immer wieder gut meinen, auch wenn sie daran zugrunde gehen.
751 bn.bibliotheksnachrichten / Helmuth Schönauer
753 Ein Mann hat es mit drei Frauen zu tun: seiner Tochter, seiner verlorenen Geliebten und seiner Frau. Der Protagonist dieser Geschichte ist ein Arzt, ein Chirurg, der ein Leben wie aus dem Bilderbuch führt. Er hat alles: Geld, Erfolg und eine schöne und kluge Frau. Timoteo ist ein kühler und vernünftiger Mann, der trotz seiner günstigen äußeren Lebensumstände unruhig und unzufrieden ist und außerhalb des Lebens zu stehen scheint. Und dann trifft er eines Tages auf die Prostituierte Italia. Sie und ihr Leben bilden in allem den Gegensatz zu dem, was Timoteo gewohnt ist. Italia wohnt in einer heruntergekommenen Gegend in einer geschmacklosen Wohnung. Sie ist hässlich, ungepflegt und schlecht gekleidet. Die Autorin scheut keine unangenehmen Details, um diese Frau und ihre Lebensumstände zu schildern und damit das Unerklärliche jeder Liebe. Das Hingezogensein von Timoteo zu Italia beginnt mit einer Vergewaltigung und mündet in eine Liebe, zu der sich der Arzt erst bekennt, sobald es zu spät ist: Italia stirbt an den Folgen einer Abtreibung. Die Erzählmuster dieser Geschichte tragen die Gefahr des Trivialen in sich, es sind die Muster des Arztromans und sentimentaler Dreiecksgeschichten, in denen zwei Frauen gleichzeitig von demselben Mann schwanger sind. Um die Dreieckssgeschichte jedoch geht es nicht wirklich, die Schilderung der Ehe bleibt im Hintergrund. Es geht um die Wiedergabe von extremen Erfahrungen, zu denen auch Timoteos obsessive Leidenschaft gehört. Eros, Liebe und Tod sind die großen Themen. Eine extreme Erfahrung ist auch der drohende Tod von Timoteos fünfzehnjähriger Tochter Angela. Während Angela nach einem Unfall einer Gehirnoperation unterzogen wird, beichtet ihr der vor dem Operationssaal wartende Vater in einem großen inneren Monolog diese Affäre. Dabei spricht er in erster Linie zu sich selber, ringt sich durch, sich selber und dem eigenen Leben ins Gesicht zu schauen. Er fühlt sich seiner Tochter gegenüber schuldig, weil er sich über ihre Geburt damals nicht übermäßig gefreut hatte. Er war in seine Leidenschaft zu Italia verstrickt und hofft nun, das Beichten von deren Tod möge Angelas Tod bannen und sie am Leben erhalten. "Geh nicht fort", sagt er beschwörend zu ihr, er, der nichts anderes tun kann, als ohnmächtig zu warten und der in seinem Doppelleben fünfzehn Jahre vorher kläglich versagt hatte. Margaret Mazzantini beschreibt die einem blinden Schicksal Ausgelieferten wie in einer griechischen Tragödie, allerdings in einem ausladenden Stil, der manchmal ins Geschwätzige auszuufern droht. Trotzdem entwickelt der Roman einen starken Sog, dem man sich während des Lesens schwer entziehen kann und die Handlung bleibt spannend bis zum Schluss. Beeindruckend gezeichnet ist die Gestalt der Italia und beeindruckend und stilistisch kraftvoll beschreibt Mazzantini die Faszination, die diese Frau auf Timoteo ausübt. Die Autorin findet vor allem eine Sprache für die Verzweiflung und die Kreatürlichkeit der Menschen und schreibt eine Geschichte des großen Erbarmens.
Personen: Mazzantini, Margaret Kaiser, Petra
Mazzantini, Margaret:
Geh nicht fort : Roman / Margaret Mazzantini ; aus dem Italienischen von Petra Kaiser. - 4. Auflage. - Frankfurt am Main : Frankfurter Verlagsanstalt, 2004. - 318 Seiten Non ti mouvere
ISBN 362700096X Festeinband :
Belletristik für Erwachsene - Signatur: DR MAZZ - Buch Dichtung