Paola Mastrocolas Erstling ist in Italien längst zum Erfolgsroman und Kultbuch avanciert. Dies mag daran liegen, dass die Autorin, Lehrerin in Turin, weiß, wovon sie schreibt. In "Das fliegende Huhn" erzählt sie in tiefgründiger Art und Weise, wie Bildung und Kultur im Zeitalter des Worldwideweb ums Überleben kämpfen. Der Leser begleitet Carla, eine 43-jährige Lehrerin für Literatur und Latein, ein Schuljahr lang durch ihren Alltag voller Belastungen und Nöte. Die Protagonistin verspürt die Verschleißerscheinungen des Systems Schule, innerlich aber rebelliert sie tagtäglich aufs Neue gegen die zunehmende Nivellierung der Massen, gegen die Verdummungsmaschinerie der modernen Welt, gegen die totale Vereinnahmung durch Handy, Fernsehen und Internet. Die Instrumente ihres Kampfes sind bescheiden und nicht neu: Baudelaire, Leopardi, Goethe, griechische Mythologie und italienische Grammatik. Vehement verteidigt sie die Bedeutung des Konjunktivs und den Wert eines Kausalsatzes, warnt vor zunehmender Sprachverknappung und um sich greifenden Parataxen, vergeblich. Ihr Publikum - die Klasse - ist längst in einen galaktischen Schlaf gesunken. Die Schüler, träge und verwöhnte Kinder von heute, verbringen den größten Teil ihrer Zeit damit, sich die ganze Welt per Mausklick auf den Bildschirm zu holen, sich füttern zu lassen mit vorgefertigten Lernhäppchen und Bildungs-Fastfood. Ohne von den Inhalten durchdrungen zu sein, durchlaufen sie gleichmütig und mehr oder weniger willig ihre Schulkarriere. Auch die Eltern haben sich längst von ihrem Erziehungsauftrag verabschiedet, ihr Interesse an schulischer Bildung erschöpft sich in der Frage nach der Versetzung ihrer Kinder. Wer kann, der flüchtet vor der desolaten Wirklichkeit und vertieft sich in Computerprogramme, sucht nach Leuchttürmen. Auch Carla macht sich auf die Suche nach einem Rückzugsgebiet und findet im Hühnerstall ihr ganz persönliches Refugium. Wer Schülern Kausalsätze beibringen will, kann schließlich genauso gut Hühnern das Fliegen lehren. Unmöglich, absurd und komisch erscheint beides in einer Welt, in der allein das Nützliche richtig und wichtig ist, in der keiner mehr in die Tiefe geht und nach Gründen forscht. Carla studiert die Fachliteratur, forscht ohne Unterlass, reist (sehr zum Verdruss ihres Schuldirektors) zu diversen internationalen Hühnerkongressen, brütet Tag und Nacht Pläne raffinierter Hühner-Flugmaschinen aus und entwirft die abenteuerlichsten Konstruktionen. In ihrem Bemühen erfährt sie Unterstützung durch Isidoro, einen Bauern aus der Nachbarschaft, der - noch vertraut mit den Dingen der guten alten Zeit - die zerstreute Welt zu ordnen vermag. Auch Tanni, eine Schülerin mit schwierigem familiärem Hintergrund, wird in die Pläne Carlas eingeweiht, und hier - außerhalb des Unterrichts - läuft echte Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler ab. Ansonsten steht die Umwelt dem Ansinnen Carlas argwöhnisch gegenüber, für die Hirngespinste einer Lehrerin hat die Welt kein Ohr. Ob sie nun Schüler oder Hühner zu selbstständigen und neugierigen Wesen erziehen will, ist einerlei, beiden sind längst die Flügel gestutzt. Doch Carla hält an ihrem Traum fest, denn vielleicht gibt es sie ja tatsächlich - die wenigen Exemplare, die aller Gleichschaltung zum Trotz Höhenflüge wagen. *Arge-Alp-Leserpreis 2003/2004* Andrea Lanthaler
Personen: Mastrocola, Paola
DR Mast
Mastrocola, Paola:
¬Das¬ fliegende Huhn : Roman / Paola Mastrocola. - München : Beck, 2001. - 223 S. - Aus dem Ital. von Sylvia Höfer
ISBN 978-3-406-48036-2 fest geb. : ca. Eur 19,10
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