Ein Dorf an der Grenze als Mikrokosmos für dramatische Veränderungen. Niki Lauda ist es zu verdanken, das der aeronautische Begriff der "Schubumkehr" Allgemeingut wurde. "Wenn es die Schubumkehr unerwartet einschaltet, dann hat man die Vorwärtsbewegung und die Rückwärtsbewegung gleichzeitig - da muß es ja alles zerlegen", erläuterte er die Ursache für den Absturz einer seiner Maschinen im Jahr 1991. Robert Menasse verdanken wir nun, daß dieser Begriff als große Metapher in die Literatur eingezogen ist. Sie steht über dem österreichisch-tschechischen Grenzdorf Komprechts, das Menasse als Mikrokosmos einer Wendezeit entwirft. Nur am Rande spielen die Ereignisse des Jahres 1989 eine Rolle, doch die Entwicklung in Komprechts weist hinaus auf die historischen Vorgänge, bei denen es "alles zerlegt" hat. In der Steinbruchgemeinde bleibt kein Stein auf dem anderen. Den wirtschaftlichen Niedergang versucht man mit sanftem Tourismus zu begegnen, aber steht dem Warten auf die Touristen nicht die Ablehnung alles Fremden gegenüber. Menasse geht solchen Veränderung nicht an der Oberfläche nach, sondern spürt individuelle Schicksale auf. Sein Panoptikum reicht vom sozialdemokratischen Dorfkaiser König über die alte Frau Nemec, die ihr Haus dem Steinbruchmuseum abtreten muß und sich dafür rächt, den Untergänger von Komprechts, einen gnadenlosen Grenzzieher in Zeiten fallender Schranken bis zu politische Lokalgrößen, die alle ihr eigenes Süppchen kochen. Sie alle sind jener Veränderungsdynamik unterworfen, die alte Strukturen zerstört, aber noch nichts festes Neues anzubieten hat. Im Mittelpunkt des Romans steht der intellektuelle Brasilien-Heimkehrer Roman. Er folgt seiner Mutter nach Komprechts, die mit ihrem zweiten Ehemann "ausgestiegen" ist, um als Biobäuerin im Kreislauf der Natur zu rotieren, letztlich aber an den feindseligen Dörflern und ihrer eigenen Lebenslüge scheitert. Im ödipalen Zwang regrediert Roman an ihrer Seite so weit, daß er seine Umwelt nur noch durch wahllose Shots mit der Videokamera, vorzüglich von einem Hochstand aus, aufzunehmen vermag. - Menasse erzählt diesen Roman in Bruchstücken, zerbrochenen Handlunsverläufen, Reflexionen, Momentaufnahmen. Das spiegelt eine aus den Fugen geraten Welt, läßt aber das zerborstene Ganze noch deutlich erkennen. Daß Menasse neben seiner scharfsichtigen Analyse und der Eindringlichkeit des Erzählens noch Platz findet, mit einem unbestechlichen Witz den Roman im Tragikomischen anzusiedeln, macht "Schubumkehr" nur noch lesenswerter. *bn* Wolfgang Schörkhuber
Personen: Menasse, Robert
DR Mena
Menasse, Robert:
Schubumkehr : Roman / Robert Menasse. - Salzburg : Residenz, 1995. - 195 S.
ISBN 978-3-7017-0918-2 fest geb. : ca. ATS 268,00
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